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GRENZGÄNGER
Rede zur Ausstellungseröffnung „GRENZGÄNGER“
am 3. November 2013 im Atelierhaus Aachen(AHA)
Meine Damen und Herren, liebe Freunde:
Die Nachrichten und Informationsorgane wie auch die
Geheimdienste leben nur davon: Grenzüberschreitungen!
Das Leben ist mit unendlich vielen sichtbaren und unsichtbaren
Grenzlinien durchwoben und täglich werden Grenzen von Menschen
überschritten. Zum Positiven aber auch zum Negativen. Es sind
konkrete und imaginäre Grenzen, die sich der Mensch als
Kollektiv meist selbst errichtet hat, um sein Eigentum, die
Moral, das Recht oder sein Leben abzusichern.
Die Geschichte zeigt uns, dass besonders in Kultur, Wissenschaft
und Politik manche Grenzen mit Blick auf ihren Wert und ihre
Beständigkeit, oft keine lange Lebensdauer besaßen.
Scheinbar ist es die Bestimmung in diesen Bereichen, dass sich
Grenzen irgendwann auflösen, bzw. überschritten werden müssen,
um einer neuen Qualität Raum zu geben!
Ich möchte Ihnen als Mit-Kurator dieser Ausstellung einige
Gedanken und Motive beschreiben, die uns zum Konzept
„Grenzgänger“ veranlasst haben.
Eine naheliegende Bedeutung, die für uns offensichtlich war, lag
in der territorialen- und symbolischen Verwandtschaft der
Grenzen hier in Aachen und ehemals in Berlin.
Nicht zuletzt sind die Berliner durch die gefallene Grenze auf
vielen Ebenen stigmatisiert und die Grenzsituation Aachens im
Dreiländereck, hat auch eine bedeutungsvolle Grenz-Historie mit
vielen Geschichten, die sich zu einem regen und
selbstverständlichen Kulturaustausch bis in die Gegenwart
entwickelt haben.
Der metaphorische Titel “Grenzgänger” bezieht aber noch eine
Grenze mit ein, die wir uns selten bewusst machen. Diese liegt
zwischen der Realität und der Wirklichkeit.
Moment… werden Sie sagen…Realität und Wirklichkeit ist das nicht
das Dasselbe?
Die Realität definiert sich durch Menschen geschaffene und
veränderbare Fakten, während sich die Wirklichkeit durch eine
von Menschen unveränderbare Faktizität darstellt; also die Natur
und das Universum dem unser Planet zugehörig ist.
Realität und Wirklichkeit werden fälschlicherweise oft als
Synonym gebraucht. In der Trennung von Natur und komplexer
Realität, liegt eine Grenze, die sich der Einzelne und die
Gesellschaft selten bewusst machen.
Die Natur kennt keine Katastrophen, sondern nur der Mensch. Auf
dieser Grenze balanciert die Menschheit seit Jahrtausenden und
erst bei Katastrophen erkennen wir mit Erschrecken, dass wir nur
ein winziger Teil einer großen Entwicklung sind.
In diesem Kontext wird die Äußerung der letzten documenta-Chefin
Carolyn Christov-Bakargiev besser verständlich, wenn sie ein
„Wahlrecht für Erdbeeren“
einforderte. Also eine Subjektivierung der Dinge! Der Mensch
soll der Natur und Umwelt eine angemessenere Aufmerksamkeit zu
Teil werden lassen. Im ungebremsten Profit- und
Fortschrittsglauben der letzten Jahrzehnte, fand diese Einsicht
zu wenig Beachtung.
Folgende Information verdeutlicht diesen Gedanken:
Bei der Staatsgründung Ecuadors im Jahre 2008, wurde neben den
Menschenrechten, auch die Natur als Rechtsgegenstand in die
Verfassung aufgenommen: also Grundrechte für Felsen, Berge,
Flussmündungen und Meere.
Der Unfall in Fukushima hat die Grenzen des Fortschritts
aufgezeigt. Die Konsequenzen daraus sind in unserem Land
bekannt.
In diesem “neuen Konsens”, drückt sich ein positives
gesellschaftliches Selbstbewusstsein aus; also die respektvolle
Anerkennung von Natur-Wirklichkeit vor der Bedrohung durch
riskante Technologien. Der behutsame Rückzug in eine
kontrollierbare Realität sollte uns daher Hoffnung geben für die
Zukunft.
Die Träume und Alpträume dieser Situation lassen auch die
Künstler als “Grenzgänger” nicht unbeeindruckt. Sie forschen
nach Ausdrucksformen, um diesen Phänomenen und Entwicklungen,
aber auch einer Utopie, ein Gesicht zu geben.
Daher scheint im Künstler selbst der Typus des Grenzgängers
beheimatet.
Bei seiner Arbeit, die Welt ästhetisch zu beschreiben, verlässt
er im Grunde ständig Grenzen, um eine sichtbare oder unsichtbare
Realität mit seinen Mitteln zu übersetzen.
Mit dieser Haltung haben es Künstler und Künstlerinnen nicht
leicht in unserer westlichen Gesellschaft: Da ihr Wirken
grundsätzlich immer auf Kommunikation ausgerichtet ist, fordern
sie mit ihren Werken die Betrachter auf, gleichermaßen eine
sinnliche- und geistige Grenze zu überschreiten, um
gewissermaßen auch Neuland zu betreten.
Die Rezeption von Kunst kann aber leider nicht immer als
selbstverständlich vorausgesetzt werden.
Was sind die Ursachen?
Die Tätigkeit des Künstlers, der künstlerische Prozess und das
künstlerische Produkt sind für viele Menschen nicht
nachvollziehbar. Die persönliche Freiheit ist beschränkt, weil
sich eine Grenze auftut. Die Schulen und das Elternhaus sind oft
unzureichend in der Lage, die Grundlagen kultureller Rezeption
zu vermitteln.
Das gegenwärtige Bildungswesen ist durchwebt von neoliberalen
Ideen und ökonomischer Ausrichtung (PISA). An unseren Schulen
wird das Streben nach einem Zweck gelehrt, aber nicht das nach
einem Sinn. Kunst als poetische Macht der Zwecklosigkeit hat es
daher schwer und wird an den Rand, an die Grenze zur Peripherie
gedrängt.
In einem besorglichen Grenzbereich bewegt sich daher der
Künstler als soziales Wesen.
Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) stellte vor
kurzem in Berlin eine Studie vor, wo nach Künstler zwar arm,
aber glücklich seien. Als Gründe wurden genannt, ich zitiere:
„Künstler ziehen aus der Tätigkeit selbst einen viel größeren
Nutzen als aus dem Geld, das sie damit verdienen“ Weiter:
„Man kann jedoch davon ausgehen, dass Künstler auch dann
glücklich sind, wenn sie nicht von ihrer Arbeit leben können.“
In diesen Einschätzungen mag ein Funken Wahrheit stecken, aber
es klingt verharmlosend nach Sozialromantik, denn die
Vereinzelung und Vereinsamung vieler Künstler (besonders im
Alter), verbunden mit dem Verschieben der Künste in die
gesellschaftliche Peripherie, wird immer beunruhigender und ist
oft verheerend.
Wir stellen fest: Das monatliche Durchschnittseinkommen der
Bildenden Künstler/innen in Deutschland beträgt ca. 900 €.
Vor diesem Hintergrund ist es mehr als zynisch, dass es Menschen
gibt, die den „Van Gogh-Mythos“ derart pflegen, indem sie
tatsächlich behaupten, Künstler müssten in prekären
Existenzsituationen leben, um wirklich gute Kunst zu
produzieren.
Auch wenn oft von den schönen Künsten gesprochen wird, so sind
die Bedingungen der Künste alles andere als schön:
Zum gegenwärtigen Zustand der Bildenden Kunst möchte ich wieder
die documenta-Chefin Christov-Bakargiev zitieren, als sie zur
documenta-Eröffnung der Welt mitteilte, dass „die Grenze
zwischen dem was Kunst sei und was nicht, immer unwichtiger
würde“.
Sollte damit etwa gemeint sein, dass ähnlich dem Ready made, nun
alles was uns im Leben umgibt, mit der duchampschen Parole,
einfach zur Kunst erklärt werden kann?
Diese Unternehmung kann aber nicht von Künstlern gewollt sein,
denn damit würden sie sich selbst abschaffen.
Für manche war diese Äußerung eher ein Menetekel, ein Vorzeichen
drohenden Unheils: Sollte das Kunst-System dabei sein, den Ast
selbst abzusägen auf dem es sitzt, in dem die Grenze zwischen
Kunst und Nicht-Kunst demontiert wird?
Nicht Kuratoren und Ausstellungsmacher werden diese Frage
beantworten, sondern die Künstler selbst werden mit ihren
Arbeiten Antworten geben.
Ein weiteres Motiv des Grenzgänger-Konzepts sollte auf
Gegensatzpaare Bezug nehmen, die durch eine imaginäre Grenze
getrennt sind: Wie z.B. Natur und Technik oder Arm und Reich…!
Neben den westlichen Wohlstands-Kulturen müssen wir uns klar
machen, dass viele Völker und Kulturen dieser Welt in
steinzeitlichen Verhältnissen existieren. Diese Erkenntnis
relativiert den Status unserer westlichen Kultur. Mehr noch:
In dies en sogenannten „Wilden“ glaube ich eine kulturelle Kraft
und Identifikation zu erkennen, die ich in unserer westlichen
Kultur oft vermisse. Denn hier wurden die Rituale und
Kultobjekte durch spekulatives Kalkül größtenteils entzaubert.
Hören Sie dazu diese kurze Geschichte:
Im tiefen Dschungel Brasiliens wurde ein Indianerstamm entdeckt,
der zuvor noch nie mit Weißen in Berührung kam. Man entdeckte in
einer speziell hergestellten Hütte flügelähnliche Skulpturen,
aus edlen Holzarten geschnitzt, die an Engel, Vögel oder
Fledermäuse erinnerten. Auf die Frage was das solle, zeigten die
Eingeborenen in den Himmel…! Es stellte sich dann auch bald
heraus, dass eine Fluglinie über dem Dorf täglich ihre Bahnen
zog. In Unkenntnis dieser Phänomene wurden die Flugzeuge als
sakrale Zeichen der Natur interpretiert und besonnen, liebevoll
und sorgfältig nachgebaut.
Was mich an dieser Geschichte beeindruckt, ist diese echte und
unverbrauchte Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, die das Leben und
die Kultur dieser Menschen bestimmen.
Aus Sicht der High-tech Zivilisation lässt es sich scheinbar
leicht lächeln, über so viel Naivität. Aber im Verhalten dieser
Menschen drücken sich Kompetenzen und Fähigkeiten aus, die vor
den Herausforderungen der Zukunft für uns, eine große Rolle
spielen könnten. Gemeint sind Fähigkeiten wie z.B. Instinkt,
Intuition oder Wahrnehmung!
Diese Fähigkeiten sind nämlich Grundlage zur
Innovationsgenerierung, die in Kunst und Wissenschaft dringend
benötigt werden.
Instinkt, Intuition und Wahrnehmung: Vielen unserer modernen
Zeitgenossen sind diese Fähigkeits-Merkmale im rationalen Stau
der Konsum- und Wissensgesellschaft abhanden gekommen.
Ursachen dafür liegen sicher auch in der ökonomisch- einseitigen
Ausrichtung eines technischen Fortschritts, dem man nachsagt,
dass er grenzenlos sei!
Daher die hypothetische Frage:
Könnte es einen Fortschritt geben, der kein technischer
Fortschritt ist? Könnte es einen Fortschritt geben, der sich
z.B. durch die Künste als ein ästhetischer Fortschritt
artikuliert, und durch eine intensive Anteilnahme und
Partizipation der Menschen, zu einer verbesserten Lebensqualität
entwickelt?
Ein Fortschritt also, der auf alle Bereiche des Lebens
ausstrahlt und eine Tiefenwirkung herbeiführen würde: in der
Bildung, Wissenschaft, Technik, Medien, überhaupt
Lebensgestaltung. Oder, wie Friedrich Schiller sagen würde, auf
die Lebenskunst.
Für Friedrich Schiller waren die Künste existentielle
Lebensgrundlage und die Etablierung des Ästhetischen in der
Gesellschaft die Bedingung für Freiheit und Selbstbestimmung.
Aber ist die Gegenwartskunst überhaupt in der Lage diese Grenze
zu überschreiten, um einen Schub ästhetischen Fortschritts zu
leisten?
Vor Kurzem versuchte Prof. Julian Nida-Rümelin
(Bildungsphilosoph und Ex-Staatsminister) in einem interessanten
Statement dieser Frage nachzugehen, das ich Ihnen zum Schluss
nicht vorenthalten möchte:
Zitat:
“Die Kunst, die moderne Kunst zumal, ist vielleicht der Bereich
menschlicher Praxis, der am innovativsten ist. Und zwar so
innovativ, dass zum Teil die Verständigung und Lesbarkeit
darunter leidet. Ein guter Teil der Kunstinteressierten hat
Probleme, mit der Entwicklung in der modernen Kunst mitzuhalten.
Und die, die nicht an Kunst interessiert sind, sind oft völlig
ratlos.”
Liebe Gäste: Sollte bei Ihnen die Spur einer Ratlosigkeit in
dieser Ausstellung auftauchen, so möchten wir Sie nicht alleine
lassen. Sehen Sie, fragen Sie die Künstler und beurteilen Sie
selbst. Setzen sie sich mit den Dingen auseinander und finden
Sie heraus, welche sinnlichen und geistigen Grenzen
überschritten werden können. Dabei wünschen wir Ihnen viel
Erfolg!
Prof. Michael Schulze
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