Laudatio 2012,  Herbert Schirmer zu meinem Benninghaus Preis

Vorspann:
Als Kind der Nachkriegszeit verbinde ich mit dem Begriff Kaleidoskop zunächst eine mit ärmlich bedrucktem Papier beklebte Pappröhre, die man schüttelte und sich anschließend vor ein Auge hielt, während man das andere zukniff. Drehte man die Röhre, veränderten sich die Glassplitter im Inneren zu neuen Ornamenten. Mit diesen Glasbildern konnte man kurzzeitig dem tristen Alltag entfliehen, sich jederzeit in eine knallbunte abstrakte Zauberwelt begeben oder sich in eine Art großer Freiheit hinein fühlen. Ob nun diese oder eine andere Bezugsquelle dazu geführt hat, der vorzüglich eingerichteten Ausstellung von Marianne Gielen den gleichnamigen Titel zu geben, darüber kann ich an dieser Stelle nur spekulieren.
Obwohl – wenn ich Ihre Exkursionen in Vertrautes wie Unvertrautes, in Äußeres wie Inneres zugrunde lege und die leidenschaftliche Handhabung der Farbe und Formen einbeziehe, erscheint Kaleidoskop wiederum nicht so weit hergeholt. Provoziert von der Farbvitalität, den verwandelten Formen, die ohne informelle Hierarchien auskommen und als formales und strukturierendes Prinzip im ästhetischen System von Marianne Gielen wie in einem Kaleidoskop auszumachen sind. Gerade weil es im Werk von Marianne Gielen zu keinem Zeitpunkt um einen wie auch immer verdichteten oder uminterpretierten Spiegel von Wirklichkeit ging, sondern um eine autonome Welt sinnfälliger Zeichen, Formen und Farbbewegungen, sollte dieser Vergleich auch in seiner hinkenden Version gestattet sein.

Auf den ersten Blick ist eine ungeheure Kreativität auszumachen, die sich geradezu explosionsartig auf Leinwand oder Papier entlädt. Ein expressives Farb- und Formfeuerwerk mit obsessiven Einlassungen, eine geradezu rauschhafte Niederschrift, bei der Kraft und Dynamik sowie malerische Gestik und Symbolik der meist spannungsvoll aufgeladenen Flecken und Zeichen eine symbiotische Beziehung eingehen. Eine Beziehung, in der zwischen expressiver Unmittelbarkeit und kontrollierter Formensprache, zwischen tiefer Erregung und impulsiv geführten Kämpfen eine Transkription des Bewussten wie des Unbewussten stattfindet. Fast will es scheinen, als vermählte Marianne Gielen in einem späten Akt und in lustvoller Manier die beiden Hauptströmungen der action painting, nämlich das Gestische etwa eines Jackson Pollock mit dem Metaphorischen der Farbe von Marc Rothko. Zugegeben, es gibt da schon eine kurze Verbindung zu ihrem Lehrer Walter Stöhrer, dem ehemaligen Meisterschüler von HAP Grieshaber, der in den 1980er Jahren an der Hochschule der Künste in Berlin lehrte und dessen farbintensives, freies Zusammenspiel von Malerei, Schrift und Zeichnung mit figurativen und expressiv-gestischen Ausdrucksmitteln für erkennbare Spuren in Marianne Gielens Werk gesorgt hat. Diese im Vorfeld mit der Künstlerin nicht abgestimmten Behauptungen sollen hier nicht weiter kommentiert werden, denn die Verortung in einer der kunstgeschichtlichen Schubladen schätzt Marianne Gielen nicht einmal ansatzweise. Lieber sucht sie auf ihre unverwechselbare Art die Auseinandersetzung mit den Übereinkünften und Gewissheiten in der Kunst wie in der Gesellschaft. Nicht zuletzt unterstreichen Temperament und Heftigkeit einerseits den prozesshaften, performativen Charakter des Malaktes, andererseits verweist die im Beziehungsgeflecht sichtbar werdende Dramatik auf ein nicht näher bezeichnetes Konfliktpotential, welches dafür sorgt, dass über die geistige Beunruhigung hinausweisend, die Bilder an Komplexität gewinnen und ihren Bedeutungsraum erweitern.
Im zweiten Anlauf trifft das Auge auf einen raffinierten Kolorismus mit unverhofften Farbkombinationen, welche die Fläche rhythmisch temperieren, einen Kolorismus, in dem statt komplementärer Klänge energetische bis divergierende Spannungen vorherrschen. In unmittelbarer Nachbarschaft von dunklen Konturen und wetterleuchtender Helligkeit der Farben tragen die energisch hin gestrichenen, symbolisch ornamentalen Zeichen, die sich ineinanderschiebenden, verschachtelnden oder überlagernden Gitter, lineare Kürzel, Zeitungsausschnitte und Farbpartikeln dazu bei, den abrupt wechselnden Rhythmus im Bildgefüge zu pointieren und zu verdichten. Gerade mit den zeichnerischen Segmenten verleiht Marianne Gielen der materiellen Existenz der Farbe kontrastreiche Lebhaftigkeit, forciert den Dialog zwischen Materie und Struktur und betont die Vitalität der Kompositionen. Nicht zuletzt deshalb erscheint die von rhythmischen Pinselschwüngen, von Überlagerungen der Farbebenen, von vielteiligen Schichtungen und Durchdringungen bestimmte malerische Textur graphisch orientiert.

Womit ich beim preisgekrönten Werk, dem Mittelteil des Tryptichons mit dem schlichten Titel Zeichnungen 1-3 wäre. In einer Spielart von Cross over hat Marianne Gielen die Einmaligkeit der Monotypie mit Acrylfarben, collagiertem Blattwerk, mit Ölkreiden und diversen Stiften bearbeitet. Kurzum: Sie hat das Medium Zeichnung gegenwärtigen Bedingungen und Erfahrungen sowie ihren Vorstellungen angepasst. Darum kann ich die Meinung der Juroren nur teilen, die in der Pressemitteilung der Galerie des Vereins Berliner Künstler mit den Worten zitiert werden, „….dass gerade diese Arbeit ohne Effekthascherei und ganz exemplarisch die bildnerische Stringenz des Arbeitens von Marianne Gielen vor Augen führt“.
Zeit und mit Blick auf ihren ungebrochenen Schaffensdrang, auf ihre Exkursionen und Reisen zu verweisen, deren es viele und in unterschiedlichste Kulturräume quer über den Globus gibt. Einflüsse von Aufenthalten und Begegnungen vor allem in Japan und China werden in den mehr zum Skripturalen tendierenden Rollbildern deutlich, die ich beispielhaft erwähnen möchte. In den vom asiatischen Schriftbild angeregten Notationen folgt sie der in der ostasiatischen Kultur entwickelten, eigengesetzlichen zeichenhaften Bilderschrift, wobei einzelne Buchstabenzeichen gelegentlich bildhafte Züge annehmen. Sie selbst bezeichnet den Einfluss der ostasiatischen Kalligrafie als großen Anreger, weil sie über die Ausgewogenheit der Schriftzeichen und kalligrafischen Elemente und die damit verbundene Sichtbarmachung von Emotionen ihre grenzüberschrei-tenden Kulturbotschaften am ehesten transportieren kann. Es wäre aber nicht Marianne Gielen, wäre damit nicht ein kritischer Verweis auf die inflationäre Zeichensprache im öffentlichen Raum der Großstadt verbunden.

Auf ihren Reisen bleibt Marianne Gielen nicht unberührt von den Themen des politischen, sozialen und kulturellen Lebens vor Ort. Auf der Suche nach grundlegenden Gemeinsamkeiten im Verhältnis der Kulturen nimmt sie unvoreingenommen unterschiedlichste Anregungen auf, modifiziert und verarbeitet sie in Permanenz. Dem ihr eigenen kulturanthropologischen Interesse folgend, sucht sie nach Berührungspunkten und Möglichkeiten gegenseitiger Befruchtung in einem neuen Kontext, wobei sie sich stets als beobachtende und teilnehmende Vertreterin moderner Interkulturalität bewegt. Dabei dient die gleichermaßen ethnologische wie auch soziologische Neugier einzig dem Zweck, die interkulturelle Kommunikation zu festigen und durch bildnerischen Ausdruck zu beleben. In Anbetracht nicht zu übersehender geopolitischer Stresssituationen mag der Wunsch nach einer diskriminierungsfreien Welt vielleicht naiv erscheinen, mittels Transformation auf Leinwand und Papier gebracht, zugleich auch eine fabelhafte Utopie, die sich in der innovativen Kraft ihrer Bilder manifestiert.

Auch wenn die eigene Unruhe, das persönliche Befinden, sie in jedem Fall bedrängende Ereignisse und Erscheinungen zum Ausdruck kommen und in Stimmungsqualitäten verwandelt werden, die Bilder von Marianne Gielen haben so gar nichts Grüblerisches oder Verquältes. Selbst da, wo sie Bezug nimmt auf Zustände von individueller wie allgemeiner Existenz, bleibt die Emanation des Individuellen zurückhaltend und dem Bildsinn untergeordnet. Vielmehr führen gerade die erkennbaren Wirkungszusammenhänge von Intellektualität und Emotionalität, von Sozialfragen und empathischer Zuneigung oder bewegender Gefühlsdichte in ihren Darstellungen zu expansiven, kontrapunktisch organisierten Leinwandereignissen. In ihnen dominiert die Gleichzeitigkeit von Unterschieden als Ausdruck mit dem Ziel, das Bewusstsein zu attackieren und ob seiner Komplexität der Darstellung unserem gegenwärtigen Leben gerecht zu werden.
Zwischen diesen Positionen hat sie ihr ureigenes Schaffensmilieu organisiert und zur eigenen Kenntlichmachung eine Sprache entwickelt, bei der das Bild sowohl als Gegenstand der Kontemplation wie auch als Objekt des Affronts, der Provokation fungiert. Darum will Marianne Gielen mit ihrer künstlerischen Haltung, aber auch mit ihrem politischen Bewusstsein und ihrem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn stets hinter ihrer Arbeit sichtbar bleiben.

Laudatio zur Eröffnung der Ausstellung KALEIDOSKOP von Marianne Gielen in der Galerie Vereins Berliner Künstler Lieberose, 14.03.2012Herbert Schirmer